Hildegards Welt |
Der Vater Hildebert, die Mutter Mechthild. Geboren in Bermersheim. Ein kleines Dorf. Das zehnte Kind. Eine Adelige ist sie. Verwandt mit allen Großen des Reiches. Deshalb redet sie furchtlos von gleich zu gleich mit den Bischöfen, die sie tadelt, mit dem Kaiser, den sie ermahnt, mit Eleonore von Aquitanien, die sie tröstet. Der zehnte Teil gehört Gott. Das glaubten die Eltern, das glaubte Hildegard. Besonders dieses Kind, das anders war, das Dinge sah, die andere nicht sehn. Zuerst das große Licht - drei Jahre alt, erLeben ohne Worte. Dann Bilder - wunderschön und schrecklich, die alles erklären, die keiner versteht. Hildegard schwieg viele Jahre bis sie eine Freundin fand: Jutta. Mit ihr ging sie ins Kloster. Das war der Ort der Freiheit, der Raum für ihre Kreativität. Dort hatte sie das Recht zu lernen, zu schreiben, zu lehren. Und das tat sie. Sie lehrte die Welt verstehen, die Seele atmen, den Körper tanzen. Dann wurde der zugestandene Raum zu eng. Die Frauenklause, die dem Männerkloster Disibodenberg unterstand. Sie baute ihr eigenes Haus. Auf dem Rupertsberg bei Bingen. Am Schnittpunkt von Rhein und Nahe, dort, wo alle Welt vorbeikam auf dem Weg zwischen Köln und Mainz und Trier. Ein eigenes Scriptorium, fließendes Wasser, Fluss der Ideen. Aufgeschriebene Bilder, zu großen Werken verbunden. Wisse die Wege. Lehren wie man Krankheiten heilt und vom Leben singen. 77 Gesänge. Ein Singspiel. Natürlich brauchten sie Instrumente. Die gibt uns Gott, damit wir unsere Lebensmelodie finden, sagt Hildegard. Wenn wir singen, suchen wir nach unserem ganz heilen, urlebendigen Selbst. Wir suchen nach der Stimme des lebendigen Geistes. |
Die Gesänge |
Hildegard von Bingen schrieb
einstimmige Gesänge für die Liturgie. Antiphonen, Responsorien,
Sequenzen, Hymnen, ein Singspiel. Mit ihren Gesängen deutet sie
vorgegebene Texte und Gesänge und gibt den Frauen ihres Konventes die
Möglichkeit, ihre Spiritualität singend zu leben. Dabei hat sie
Themenschwerpunkte, die die Lebendigkeit und Kreativität des geistlichen
Lebens unterstützen. |
Das Konzept |
Die Aufführungspraxis der Gesänge
Hildegards ist wesentlich auf das Wort ausgerichtet. Hildegard
komponiert, indem sie den lichten Worten eine Klang-Farbe verleiht. Sie
gliedert und deutet die Texte, die sie schreibt, mit Hilfe der Musik und
sie verbindet auf subtile Weise einzelne Textteile so miteinander, dass
ein mehrschichtiges und äußerst farbenreiches Klangmosaik entsteht,
dessen spiritueller Reichtum sich langsam immer mehr erschließt. Wer
diese Musik aufführt muss sich dem Wagnis stellen, den Text so zu
vermitteln, wie man einen Text vorlesen oder singen würde, den man sehr
gut kennt. Erst diese Vertrautheit mit dem Text verleiht die Freiheit,
die melodische Struktur zu gestalten. |
Die Instrumentierung |
Hildegards Gesänge sind in ihrem Kloster mit
instrumentaler Begleitung aufgeführt worden, wie ein Brief ihres letzten
Sekretärs Guibert von Gembloux bezeugt. Will man dies heute
nachvollziehen, so ist zu fragen, an welchem Stilideal man sich dabei
orientiert. Stephanie und Christoph Haas haben sich für ein Konzept entschieden, das die Gesänge in einen deutenden instrumentalen Klangraum stellt: Langhalslaute, Rahmentrommeln und Cymbals zeichnen sich - ebenso wie die monodischen Melodien des mittelalterlichen Gesang - aus durch Grundton-Bezogenheit, Reichtum an Klangfarben und Obertönen. Dieses Konzept übersteigt die übliche historisierende Praxis. Es umrahmt nicht, es ist kein schmückender Zusatz, sondern substantiell. Christoph Haas gestaltet seinen instrumentalen Part analog zur kompositorischen Praxis Hildegard von Bingens, indem er auch durch die Wahl der Rhythmen mittelalterliche Weltdeutung zum Klingen bringt. So leuchtet in Aurora ein metallischer Klangraum, die an den religionsübergreifenden kultischen Gebrauch von Zimbeln erinnern. Das 12schlägige Motiv in der Gliederung 3-3-2-2-2 spiegelt als vollkommener Rhythmus die Harmonie von Dualität (zahlensymbolisch in der 2 abgebildet) und göttlicher Kraft und Vollkommenheit (zahlensymbolisch in der 3 abgebildet), wieder. Und auch die Wahl der Metall-Instrumente ist kein Zufall. Sie ist vielmehr bezogen auf die Glut der leuchtenden Sonne (Aurora), die Erde zu Metall schmilzt. Das Instrumentarium von Laetitia greift auf eines der ältesten Musikinstrumente zurück: Rahmentrommeln werden traditionell von Frauen gespielt. "Da nahm Myriam eine Trommel in ihre Hand, und alle Frauen folgten ihr nach mit Trommeln im Reigen" (2. Mose 15). Perdito arbeitet mit der Symbolzahl 7, deren Deutungsmöglichkeiten beinahe unendlich sind. Die 7 ist die vollkommene Zahl, die aus der 3 (Himmel) und der 4 (Erde) zusammengesetzt ist. Sie steht für die Möglichkeiten menschlicher Entwicklung, die 7 Werke der Barmherzigkeit ebenso wie die 7 Todsünden. Hier ist sie hinweisgebend auf den gefallenen Engel realisiert. |